Interessanter Aspekt zur Anbindung des ländlichen Raums.

Oft wird gesagt, dass “auf den Land” die Entfernungen einfach zu groß sind, um ohne Auto auszukommen. Wie die Statistik zeigt, sind die nächsten Zentren jedoch für 97% der Bevölkerung gut zu erreichen.

In Wirklichkeit gibt es zwei Probleme, die ineinander verschränkt sind:

  1. Die Bevölkerung im ländlichen Raum hat sich zu grossen Teilen mit einem eigentlich suburbanen Lebensstil eingerichtet, bei dem aufgrund der Bequemlichkeit des Autos täglich sehr große Entfernungen zwischen Städten und Wohnorten zurück gelegt werden, im Stil eines “American Way of Life”. Der ist aber nicht nachhaltig und nur mit massiven öffentlichen Ausgaben für Strasseninfrsstruktur finanzierbar - siehe A100 in Berlin.
  2. Als Folge davon ist der öffentliche Nahverkehr und Regionalverkehr völlig unterentwickelt, so dass auch notwendige tägliche Wege im Nahraum nicht mehr zeiteffizient bewältigt werden können.

Man wird nicht eines dieser Probleme lösen können, ohne das andere zu beackern. Das ist ganz so wie in der Medizin, wenn ein Krankheitsbild sich in einem Syndrom äußert, in dem sich mehrere Probleme in Teufelskreisen gegenseitig verstärken: Wenn jemand unter Bewegungsmangel, Übergewicht, Kreislaufproblemen und Diabetes leidet, ist der effektive Weg, alle einzelnen Teilprobleme jeweils ursächlich zu bekämpfen, um auch die Teufelskreise zu stoppen. Der Patient kann also nicht sagen: “Ach was, solang ich Übergewicht hab, mag ich mich nicht mehr bewegen, da macht ja auch mein Kreislauf Probleme”.

Ebenso kann man die Probleme des ländlichen bzw suburbanen Raums nicht lösen, indem man einfach darauf wartet, bis besserer ÖPNV vom Himmel fällt und sich die Autoabhängigkeit von selber reduziert. Man muss auch diese Abhängigkeit angehen.

Übrigens sind Verkehrspolitik und Klimaschutz voll von solchen so genannten “Wicked Problems”, ineinander verzahnten und verflochtenen Problemen. Zum Teil auch, weil diese Abhängigkeiten, Verschränkungen und Verflechtungen bewusst gefördert wurden, wie beim Rückbau von regionalen Bahnstrecken und ÖPNV. Die Verschränktheit ist also auch eine Strategie, für bestimmte Interessengruppen unerwünschte Veränderungen zu blockieren. Das sieht man an der Agressivität und Vehemenz, mit der gegen mögliche Teil-Problemlösungen wie z.B. beim Radverkehr in Berlin, oder beim Tempolimit auf Autobahnen (das wegen des viel geringeren Energiebedarfs bei reduzierter Geschwindigkeit ja auch eine Förderung von batterieelektrischen Fahrzeugen auf der Langstrecke bedeutet) vorgegangen wird.

  • geissi@feddit.org
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    23 days ago

    Oft wird gesagt, dass “auf den Land” die Entfernungen einfach zu groß sind, um ohne Auto auszukommen. Wie die Statistik zeigt, sind die nächsten Zentren jedoch für 97% der Bevölkerung gut zu erreichen.

    Was heißt hier “jedoch”? Die Statistik bestätigt, dass man hierfür ein Auto braucht.

    Rund 97 Prozent der Bevölkerung erreichen das nächste Mittel- oder Oberzentrum innerhalb von 20 Minuten Fahrzeit mit dem Pkw.

    • HaraldvonBlauzahn@feddit.orgOP
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      23 days ago

      In 20 Minuten mit dem PKW wird man regulär nicht weiter als etwa 15 Kilometer kommen. Das kann man auch in tragbarer Zeit mit dem Bus zurück legen, sofern man dafür sorgt, dass häufig genug einer fährt.

        • HaraldvonBlauzahn@feddit.orgOP
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          22 days ago

          Nun, ich habe ja schon im Post Kommentar geschrieben, dass man sich da in einem Teufelskreis befindet aus Zersiedlung, unzureichender ÖPNV Infrastruktur, und einer Lebensweise die auf dem ständigen Zurücklegen grosser Entfernungen zwischen Wohngebieten und Städten basiert und somit eine ganz starke Abhängigkeit (nicht nur physisch sondern auch mental) vom Auto schafft - das, was als “Leben auf dem Land” bezeichnet wird aber eigentlich “Suburbia” genannt werden müsste. Und das kann nur durch gezielte Interventionen umgekehrt werden, die ganzheitlich an vielen Stellen der Teufelskreise ansetzen.

          Und da ist eben nicht nur das Problem, dass die Landbewohner es sträflich unterlassen, ihren Volksvertretern auf die Zehen zu treten dass sie vernünftigen ÖPNV einrichten.

          Sondern viele wollen es gar nicht anders.

          Beispiel: Bürgerinitiativen gegen Buslinien wie in Alling / Eichenau zwischen München und Fürstenfeldbruck. “Nachher ziehen hier noch Leute hin, die kein Auto haben!!”

          Hier übrigens die Lage dieser Strasse

      • geissi@feddit.org
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        23 days ago

        In 20 Minuten mit dem PKW wird man regulär nicht weiter als etwa 15 Kilometer kommen.

        In der Stadt vielleicht. Auf dem Land, wo du nach 5min aus dem Ort raus bist, schaffst du über Landstraße und Autobahn locker 25 km. Die radelst du nicht mal eben so.

        Das kann man auch in tragbarer Zeit mit dem Bus zurück legen, sofern man dafür sorgt, dass häufig genug einer fährt.

        Ja, wenn denn einer fährt. Das ist doch gerade das Problem.
        Der verlinkte Artikel sagt ja schon

        Sind Personen wie Schüler oder ältere Menschen auf öffentliche Verkehrsmitteln angewiesen, ist die Erreichbarkeit vielerorts jedoch deutlich schwieriger. Hiermit erreichen nur 82 Prozent der Bevölkerung innerhalb von 30 Minuten ein Mittel- oder Oberzentrum.

        Angesichts der Tatsache, dass über 70% der Bevölkerung in der Stadt leben, heißt das, dass ein Großteil der Landbevölkerung eben keinen solchen Zugang zu Bussen haben.

        Und ich gehe mal davon aus, dass es hier um die reine Fahrtzeit geht.
        Ich kann dir aus meiner Jugend sagen, dass mich mein Schulbus innerhalb von 20 min in der Schule abgesetzt hat.
        Allerdings fuhr der nur in der Früh und Mittags stündlich, als er auch als Schulbus gebraucht wurde. Ansonsten ging der nur alle 2 Stunden.

        • HaraldvonBlauzahn@feddit.orgOP
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          22 days ago

          In der Stadt vielleicht. Auf dem Land, wo du nach 5min aus dem Ort raus bist, schaffst du über Landstraße und Autobahn locker 25 km.

          Das würde nur gelten, wenn man die Höchstgeschwindigkeit fahren kann. Die Reisegeschwindigkeit ist fast immer deutlich niedriger.

        • HaraldvonBlauzahn@feddit.orgOP
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          22 days ago

          Angesichts der Tatsache, dass über 70% der Bevölkerung in der Stadt leben, heißt das, dass ein Großteil der Landbevölkerung eben keinen solchen Zugang zu Bussen haben.

          Es wird immer behauptet, dass die Landbevölkerung in der Mehrheit ist …

          Edit: Beispiel hier.

  • Scipitie@lemmy.dbzer0.com
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    23 days ago

    Sorry aber das ist doch größer gemacht als es ist und statistischer Taschenspielertrick.

    Was bringt es mir, wenn ich die Ortsgrenze von Berlin erreicht habe innerhalb von “0 bis 9 Minuten”?

    Es gibt Gebiete in Hamburg, bei denen du länger brauchst, um das Krankenhaus / Kino/ Rest der Beispiele zu erreichen als “0 bis 9 Minuten”. Sie haben einfach gesagt, alles 0 Minuten.

    Daraus zu schließen, dass die Entfernungen relevant oder irrelevant sind ist … Seltsam. Es geht um Reisezeit, und diese hängt mit dem Ziel zusammen nicht einer Ortsgrenze. Zum Beispiel der Arbeitsplatz, der ist doch viel kritischer für die meisten auch wen das in der remote Blase oft unter geht.

  • Raven@feddit.orgM
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    23 days ago

    Leider ist es nicht ganz so einfach. Zumindest hier in Baden-Württemberg wurde die Bevölkerung (allen voran junge Familien und Paare) über Jahrzehnte aus politischen Gründen vom Land massiv animiert aufs Dorf zu ziehen. Dabei wurde voll aufs Auto gesetzt was dazu führte das viele Dörfer ‘explodierten’ und rund um die historischen Dorfkerne autogerechte Wohnlandschaften entstanden. In Bayern war (ist?) es wenn ich mich recht erinnere ähnlich.

    Was die Anbindung betrifft ist es nicht nur sehr wichtig wie weit das nächste Mittelzentrum (die hier zum größten Teil auch schon seit Jahren immer mehr austrocknen) entfernt liegt, sondern wo die Menschen konkret hin müssen. Dazu kommt noch die Häufigkeit der Verbindungen und natürlich die Führung der Verbindung. Den wenn man mit dem ÖPNV doppelt so lange oder noch länger wie mit dem Auto braucht, ist er für die allermeisten keine Alternative.

    • Raven@feddit.orgM
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      23 days ago

      Ein weiterer Aspekt ist die Strecke zur Bushaltestelle. Von meiner Mutter die wie auch ich einige Jahrzehnte lang auf dem Land wohnt, braucht man zu Fuß knapp 10 Minuten zur Bushaltestelle. Andere im Dorf brauchen über eine halbe Stunde. Mit Fahrrädern und Elektrorollern könnte man dieses Hindernis aushebeln, aber natürlich gibt es an den Bushaltestellen keine entsprechenden Parkplätze, meißt ist nicht mal der Platz dafür vorhanden.

      • Raven@feddit.orgM
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        23 days ago

        Und natürlich gibt es da noch anderes. Überfüllte, nicht selten innen dreckige Busse. Verspätungen inkl. verpasster Anschlüsse. Mangelndes Bewusstsein anderer Fahrgäste für das Thema Infektionsschutz. Recht unbequeme Busse was bei größeren Strecken durchaus relevant ist. Mir würde sicher noch mehr einfallen.

    • Melchior@feddit.org
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      22 days ago

      Sind Personen wie Schüler oder ältere Menschen auf öffentliche Verkehrsmitteln angewiesen, ist die Erreichbarkeit vielerorts jedoch deutlich schwieriger. Hiermit erreichen nur 82 Prozent der Bevölkerung innerhalb von 30 Minuten ein Mittel- oder Oberzentrum.

      Das mit der Anbindung ist also relativ normal.

      Was hier auch relevant sein dürfte ist der Osten. Da gibt es viele ländliche Regione, die bald eine massiv schrumpfende Bevölkerung haben dürften. Viele junge ziehen weg und es ist oft ziemlich rechts, also mit Zuwanderung wird das eher nichts. Dazu dürften die Boomer auch in ein paar Jahren sterben und damit die Bevölkerung fallen. Damit dürften einige Kleinstädte nicht mehr die Bevölkerung haben um gewisse Dienste anzubieten. Dazu ist gerade im Nordosten die Bevölkerungsdichte sowieso gering.

  • JensSpahnpasta@feddit.org
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    22 days ago

    Ich glaube, dass da mehrere Dinger drinstecken:

    • Die Erreichbarkeit von diesen Mittel- und Oberzentren verschleiert vieles. Ich fahr auch nur da hin, weil da halt mein Arbeitgeber ist, aber bin dort auch sehr selten in der Innenstadt. Man kann ja Zeugs online bestellen und so.
    • Das gilt auch für so Sachen wie Schulen & Ärzte. Da ist das Zentrum nicht entscheidend, sondern die Lage der Schule oder der Ärzte.
    • Es ist auch eine Entscheidung, dass man irgendwo im abgelegenen Nirgendwo wohnt. Man muss das nicht machen. Und wenn man in einem Mini-Dorf mit 200 Einwohnern 50km von der nächsten Großstadt leben will oder auf einem abgelegenen Bauernhof im Schwarzwald, dann kann man auch nicht erwarten, dass man ohne Nachteile die gleichen Dinge haben kann wie jemand, der in einer Großstadt wohnt oder dass der Rest der Gesellschaft dann notwendige Reformen nicht durchführt. Wir brauchen halt die Verkehrswende, um eine Chance gegen den Klimawandel zu haben und da ist es dann auch total egal, ob Leute, die freiwillig am Eimer der Welt wohnen wollen, schnell ins Kino kommen.
    • geissi@feddit.org
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      22 days ago

      Punkt 1 und 2 würde ich zustimmen aber beim dritten sehe ich das anders:

      Es ist auch eine Entscheidung, dass man irgendwo im abgelegenen Nirgendwo wohnt.

      Man sucht sich nicht aus, wo man geboren wird und aufwächst. Im Gegenteil ist es eine bewusste Entscheidung, die man treffen muss wenn man da weg zieht.
      So eine Entscheidung trifft man nicht mal eben im Vakuum. Man muss dann auch bereit sein, nicht nur seine Heimat sondern auch sein soziales Umfeld zurück zu lassen. Und natürlich muss man dann auch in den oft angespannten Wohnungsmärkten der Stadt was finden.

      Die Landflucht ist ja schon heute ein Problem. Ich hab mal in einer anderen Diskussion zum Thema hohe Mieten genau die gegenteilige Meinung gelesen: Dass es ja eine individuelle Entscheidung sei, in die Stadt zu ziehen. Das müsse ja nicht jeder. Es sei ja ein Luxus, das Kino direkt um die Ecke zu haben, den sich halt nicht jeder leisten kann.
      Und was es für das Land bedeutet, wenn die Jungen (va. Frauen) wegziehen, sieht man in jeder zweiten Doku über den Osten.

      Bei der Verkehrswende müssen wir möglichst schnell große Würfe machen und das geht am besten in den Städten.
      Da lässt sich mit ÖPNV viel schneller viel mehr erreichen. Auf dem Land dagegen wird man den Individualverkehr nicht abschaffen können. Da soll man dann halt E-Autos und Solaranlagen fördern und gut ist.

      Es sei denn dein Kommentar war so zu verstehen, dass man den ländlichen Raum aufgeben soll. Dafür gäbe es theoretisch auch Argumente aber dann können wir gleich mal anfangen neue Planstädte aus dem Boden zu stampfen. Das seh ich bei uns irgendwie nicht.

      • HaraldvonBlauzahn@feddit.orgOP
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        22 days ago

        Man sucht sich nicht aus, wo man geboren wird und aufwächst. Im Gegenteil ist es eine bewusste Entscheidung, die man treffen muss wenn man da weg zieht.

        Das gilt für Leute, die z.B. in Sachsen auf dem Dorf geboren sind und da vielleicht ein Haus geerbt haben, aber nur für einen winzigen Teil der Bewohner der Speckgürtel von Grossstädten, die sich eben auch als “Landbewohner” bezeichnen.

        Und klar die sächsischen Dörfer brauchen eine andere Verbesserungsstrategie als diese Speckgürtel.

        • geissi@feddit.org
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          21 days ago

          Im Jahr 2022 lebte mit 60 Millionen Personen die Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands (71 %) in Großstädten und deren Umland.

          Wenn ich von den ~30% der Bevölkerung rede, die nicht in Städten leben, meine ich explizit nicht die Speckgürtel.
          Das sind relativ dicht besiedelte (sub)urbane Räume, in denen man leicht mehr ÖPNV anbieten kann.

          Mit “auf dem Land” meine ich explizit Dörfer, Gemeinden und Kleinstädte. Und ja auch da werden Leute geboren und nein, in einem Land in dem man noch über 1,00 Kinder pro Familie hat, erbt da auch nicht jeder ein fertiges Haus.